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Die Suche nach Freiheit im Iran hinterlässt ihre Spuren. Entlang der irakischen Grenze.

  • von Alicia
  • 15 März, 2020

Raus aus Armenien. Rein in den Iran. Es ist Februar 2019. Ich erreiche die Eingangshalle an der Grenze zum Iran. Tim ist noch weit hinter mir und schlägt sich in der Warteschlange für Fahrzeuge mit den nächsten Schritten der Einfuhr von Scudo herum. Erstmals kommt das sogenannte Carnet de Passages zum Einsatz, Scudos Reisepass, ohne den wir unseren Camper nicht durch den Zoll bekommen würden. Ich schaue mich unterdessen in der Halle um. Mein Blick trifft unvermittelt die streng dreinblickenden Augen Chomeinis, dem belangvollen Führer der Islamischen Revolution von 1979. Diese Augen werden mich für den Rest meiner Zeit im Iran verfolgen; auf Wänden werde ich sie auf mich hinabschauen sehen; in jedem öffentlichen Gebäude werden sie jeden meiner Schritte beobachten. Sein Blick scheint wie einer, der einen mahnen will mit Worten wie: „Rück‘ gefälligst dein Kopftuch zurecht!“ Oder so etwas in der Art. Ich wende den Blick von diesem großen Foto an der Wand ab, ziehe mir unwillkürlich das Kopftuch tiefer ins Gesicht und schlendere langsam zum leeren Schalter der Passkontrolle.

Als auch Tim endlich die Kontrolle des Grenzübergangs hinter sich gebracht hat, der unter anderem dazu dient, zu kontrollieren, ob wir Alkohol einführen, geht es für uns zu der nächstgelegenen Großstadt Täbris. Weil es laut Karte und Navigationssystem einen Weg durch die hübsche bergige Landschaft gibt, überlegen wir nicht lange und wählen diese leicht verhängnisvolle Tour.
So schlängeln wir uns durch die großartige Landschaft, sehen nichts als rostbraune Hügel sowie die leere, relativ gut asphaltierte Straße vor uns, die nur so vor Freiheit strotzt. Wie so oft auf solchen Strecken kann jedoch auch heute wieder nur eines unsere Euphorie auf das Land und die freie Fahrt bändigen: die langsam hereinbrechende Nacht und unsere Müdigkeit. Irgendwo an einem nichtssagenden Straßenrand, auf einer kleinen Grünfläche, halten wir an und beschließen, dort unsere erste Nacht im Iran zu verbringen.
Auf dem Weg in die Berge.
Die Nacht ist kalt, der anfängliche Regen geht allmählich in Schnee über, sodass die Straße, unser Scudo und die Landschaft am nächsten Morgen über und über mit Schnee bedeckt sind. Während unseres Frühstücks (kalter Joghurt mit frischen Früchten, aber immerhin mit einem warmen Tee dabei) zieht ein gewöhnlicher Traktor mit einem montierten Schild zum Schneepflügen an uns vorbei und lässt uns froh stimmen über den beiseitegeschobenen Schnee hier im Nahen Osten. Über die freigemachte Straße machen wir uns nach dem Essen auf den weiteren Weg nach Täbris – jedoch vorerst nur für ca. 500 m! Denn wir stellen fest, dass die Straße nicht weiter geräumt wurde. „Was soll’s“, denken wir. Muten wir Scudo ja inzwischen ohnehin fast alles zu und ziehen also unseren Weg durch die immer höher werdende Schneedecke nun mit Schneeketten weiter durch.
Ungefähr 15 oder 20 Kilometer kommen wir so in Schrittgeschwindigkeit voran, bis die Schneedecke auf der Bergstraße so dick und die Straßensteigung immer extremer wird, dass die Räder plötzlich durchdrehen und die Schneeketten an Rutschfestigkeit verlieren. Sie fallen schließlich ganz ab. Als Tim die Ketten wieder montieren will und von draußen per Handbremse die Räder um eine halbe Drehung zurückrollen lässt, damit zumindest die linke Schneekette sich wieder aufzieht, verliert Scudo an Halt und Traktion und beginnt seitlich nach hinten in Richtung Abgrund zu gleiten. Aus Reflex springt Tim ins Auto, zieht die Handbremse an und tritt auf das Bremspedal, um das Schlimmste zu verhindert. Während ich – noch immer auf der Beifahrerseite sitzend – gerade in Schockstarre zeitlupenartig vor mir sehe, wie das Auto schräg die Steigung herunterrutscht. Bevor das passiert, stoppt alles glücklicherweise noch rechtzeitig.
Tim befestigt die Schneeketten.

Wir gestehen uns hier ein, dass eine Weiterfahrt unter diesen Umständen einfach nicht möglich ist. Nicht einmal umdrehen können wir hier, sodass Tim uns ein bis zwei Kilometer auf unserer alten Spur rückwärts aus diesem Schlamassel manövrieren muss, bis wir wenden können. Wir haken die Tour durch die Berge ab und nehmen die Hauptroute über die asphaltierte Autobahn auf uns, um nach Täbris zu gelangen. Dort kommen wir schlussendlich auch gut an.

Ein paar Tage später verlassen wir Täbris wieder. Auf Empfehlung von drei Iranern, die wir zufällig trafen, fahren wir im Westen des Landes, dicht an der irakischen Grenze, über das schöne in Kurdistan liegende Bergdorf Uraman weiter in den Süden. Der Weg dorthin ist gesäumt von Bergen und kleinen Bergdörfern, die eine kontinuierliche Weiterfahrt diesmal unmöglich machen, weil wir nur schwerlich umhinkönnen, immer wieder auszusteigen und die Landschaft zu bestaunen.

Das kurdische Bergdorf "Uraman".
Nach und nach arbeiten wir uns dennoch weiter vor und erreichen immer mehr an Höhenmetern, bis die Schneegrenze sich wieder nähert. An einem Militärposten des Grenzschutzes müssen wir erneut halten und werden unter Präsenz von Kalaschnikows dazu aufgefordert, unser Reisepässe vorzuzeigen. Bei der Kontrolle an diesem Checkposten, die sich als harmlose Standardkontrolle herausstellte, wissen wir noch nicht, dass derartige stark bewaffnete Kontrollen später zur lästigen Routine während unserer Reise durch den Iran werden würden. Nachdem alles erledigt ist, fahren wir weiter durch die grauweißen Berge, die zu unserer Rechten die natürliche Grenze zum Irak bilden.
An der natürlichen Grenze zum Irak.
Wir schlängeln uns über die Passstraße, deren schneebedeckter Boden mit einem Mal von Müll und vereinzelt parkenden Autos flankiert wird. Je weiter wir fahren, desto mehr parkende Autos erscheinen am Straßenrand – und noch mehr Müll. Insbesondere orangefarbener Plastikmüll, der auf dem weißen Schnee signalfarbenartig hervorsticht. „Irgendetwas ist doch hier los! Wo sind denn die ganzen Menschen zu den parkenden Autos?“, frage ich in den Raum. Die Antwort befindet sich nicht nur zwei Kilometer weiter, wo wir den ersten Männern begegnen, sondern ganz besonders und erschreckenderweise auf dem hohen Bergkamm zur irakischen Grenze, wo der Rest der Mannschaft auf orangefarbenen Kartons die Riesenberge wie spielende Kinder herunterrodelt. „Was in aller Welt machen die da?!“, platzt es aus mir heraus, wohlwissend, dass mir gerade keiner eine Antwort liefern wird. Aber ein Blick auf weitere Männer, an denen wir soeben vorbeifahren, gewährt uns schnellen Aufschluss über dieses Geschehnis: es geht um Schmuggel in hollywoodreifen Szenarien! Einige Kartons werden neben uns geöffnet. Autoradios, Handys, Küchengeräte, Stereoanlagen, usw. werden hier unter lebensbedrohlichen Bedingungen aus dem Irak in den Iran geschmuggelt – zu Fuß! Wie eine Ameisenstraße lässt sich der schwarze Faden in der Ferne verfolgen, der sich am Fuße des Berges in sichtbarerer Distanz zwischen den orangenen Plastikfetzen einiger Kartons aufzulösen scheint. Wir können es nicht fassen, dass wir gerade Zeugen möglicher Folgen von Wirtschaftssanktionen werden, die dem Iran seitens der USA auferlegt wurden. Dass die dadurch eingetretene Wirtschaftskrise im Iran den stetig wachsenden Unmut der Bevölkerung, den wir später im Iran noch oft zu hören bekommen werden, Menschen dazu befähigt, ihr Leben für Elektrogeräte zu riskieren.
Schmuggler rutschen die Berge hinab.
Aufgrund der Sanktionen haben sich in wirtschaftlicher Hinsicht viele Länder aus dem Iran zurückgezogen. Zudem verliert die iranische Währung Rial immer mehr an Wert, sodass es zu einer großen Inflation gekommen ist. Elektrogeräte von Marken westlicher Hersteller, die vor drei Jahren etwa noch um das drei- oder vierfache weniger kosteten, sind für die Menschen heute kaum mehr bezahlbar. Aber nicht nur der Schmuggel scheint die Folge der Sanktionen zu sein, sondern auch Korruption. Wie sonst ließe sich erklären, dass der Militärkontrollposten, den wir nur wenige Kilometer zuvor passiert haben, von all dem Schmuggel nichts bemerken will, geschweige denn etwas dagegen unternimmt? Andererseits: Wer würde nicht gern einen Teil des Kuchens abbekommen wollen, der a l l e n, egal welchen Ranges, einen Lebensstandard ermöglicht, der aus rein politisch motivierten Gründen niemandem vergönnt bliebe?

Niemand hier schert sich um unsere Anwesenheit. Selbst als ich die Kamera hervorhole, um das Geschehen zu dokumentieren, fühlt sich niemand in seiner Arbeit gestört. Es scheint völlig normal, das macht die Situation für uns noch unbegreiflicher. Nach einer gewissen Zeit steigen wir wieder ins Auto, um weiter entlang des Gebirgskamms zu fahren. Was wir hier erlebt haben, hallt noch lange nach und es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir eine solche Schmuggelaktion im Iran sehen.

Unverhofft werden wir erneut Zeugen einer besonderen Sache im Iran. Zeugen der fortwährenden unglaublichen Gastfreundschaft, die, trotz allen Unmuts in diesem Land hinsichtlich der Wirtschaftskrise, nicht abzuklingen scheint: Gegen Nachmittag treffen wir in dem Bergdorf Vara ein. In einem kleinen Laden wollen wir uns mit einem Nachmittagssnack eindecken und legen unsere Auswahl gut sichtbar auf den Tresen des Verkäufers, zahlen dürfen wir allerdings nicht. Der Verkäufer ist sichtlich erfreut über uns und darüber, dass Touristen den Weg in seinen Laden gefunden haben. Er will uns alles, was wir uns ausgesucht haben, schenken: „Für Touristen ist alles umsonst“, beteuert er spontan mit einem sympathischen Lächeln. Tims mehrmalige Versuche, das Geld zu überreichen, akzeptiert er nicht und schenkt uns diesen Einkauf tatsächlich. Es ist nicht das erste und letzte Mal, dass wir im Iran zu etwas eingeladen werden: ein Tee, ein Snack, ein Mittagessen, ein Gespräch, eine Tankfüllung, eine Übernachtung…

Unsere weitere Route führt uns in Richtung Süden, wo wir endlich wieder den warmen Strahlen der Sonne begegnen wollen. Wir fahren auf einer asphaltierten Straße zwischen einer immer karger werdenden Landschaft, weiterhin an der Grenze zum Irak, und kreuzen örtlich die Geschichte des Ersten Golfkrieges. Einem Krieg zwischen dem Iran und Irak, dessen Ausmaß unzählige Menschenleben, insbesondere das Leben junger Kindersoldaten, aufs Brutalste forderte.

Ich versuche, nicht daran zu denken, während die Geschichte an meinem Beifahrerfenster an uns vorbeizieht. Es fällt schwer, denn alle paar Meter zieht ein anderes Gesicht, groß, unverkennbar, starr, auf alten Plakaten (meist an Straßenlaternen befestigt) an uns vorbei, dessen Farben im Zeichen der Zeit jedoch längst verblichen sind. So aber nicht die Erinnerung an jenen Krieg, dessen Geschichte sein Fundament heute auf dem Leben vieler Toter baut, die als Märtyrer gelten und deren Gesichter bis heute unvergessen in der Öffentlichkeit prangen.

Da die Sonne im Begriff ist unterzugehen, bleibt uns jetzt keine Wahl, als uns auf die Suche nach einem Platz zum Übernachten zu machen. Obwohl das Finden eines passablen Platzes sich in solchen Orten, die vor Weite und Raum nur strotzen, normalerweise nicht als sonderlich schwierig erweist, wird unsere Platzsuche an diesem Ort heute von einem merkwürdigen Beigeschmack untermauert.
Einer dieser freien Plätze im Iran.
Wir finden einen simplen Platz auf einer Wiese zwischen kargen Hügeln. Es ist inzwischen dunkel, nur Scudo wirft ein paar Lichtstreifen aus seinem Inneren auf die Wiese. In alter Macht der Gewohnheit aus Zeiten der eiskalten Tage ziehen wir es noch vor, unten zu schlafen und nicht unter unserem Hochdach. Wir sind müde, also legen wir uns nach dem Zähneputzen schnell in die Schlafsäcke, um diese Nacht herumzukriegen und morgen zügig weiterzufahren. Tim macht das Licht aus. Alles um uns herum ist stockduster. Die Augen werden schwer. Die Gedanken verschwinden träge ins Nichts. Und plötzlich: Motorgeräusche eines Fahrzeuges, das offenbar unmittelbar neben Scudo zum Stehen kommt. Stimmengewirr auf Farsi. Die Augen sind schlagartig wieder hellwach. Ich öffne sie und es trifft mich der spitze Lichtstrahl einer Taschenlampe durch die kleinen Spalten unserer zugehängten Frontscheibe direkt ins Gesicht. „Da ist jemand. Tim, da ist jemand!“, flüstere ich zu Tim, als hätte er das Offensichtliche nicht auch schon längst bemerkt. Wir folgen den Stimmen, die um unser Auto kreisen, mit den Augen. Schließlich klopft es. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir nachts aus dem Schlaf geklopft werden und – wie fast immer – von der Polizei überrascht worden wären, die uns hier und da aus Sicherheitsgründen nicht haben möchte. Allerdings ist das bis jetzt noch nie im Iran passiert. Ist es denn die Polizei? Tim streift sich eine Hose über und öffnet die Tür. Ein mit einem schwarzen Tuch vermummter Mann steht in der Türöffnung, bewaffnet mit seiner AK-47, und schindet damit einen Eindruck, der unvermittelt in die Assoziation eines Terroristen übergeht. Etwas argwöhnisch stellt sich Tim der zunächst unbekannten Situation draußen, während ich im Auto bleibe und die Ohren spitze. Aus dem Schatten der Dunkelheit taucht ein zweiter vermummter Mann auf, dessen Aussehen nicht weniger abschreckend ist. Ruhe bewahren. Die Situation relativiert sich schnell, als noch zwei weitere Männer auftauchen und sich als Polizisten kenntlich machen, die tatsächlich nur hier sind, um das zu tun, was alle Polizisten tun, wenn sie uns finden: Sie verweisen uns aus Sicherheitsgründen des Platzes. Der Grund: Potentielle irakische Scharfschützen sollen an diesem Ort lauern. Zudem wird Tims Pass kontrolliert. Der Lichtstrahl einer grellen Taschenlampe trifft mich im Scudo währenddessen erneut ins Gesicht, bevor Tim den Beamten klarmacht, dass keiner außer mir – seiner Ehefrau, wie wir im Iran vorgeben – sich im Auto befindet. In Sekundenschnelle wird das Licht von mir abgewendet und die Schiebetür zugezogen. Nur meinen Reisepass muss ich Tim durchreichen und werde ungeahnt respektvoll außer Acht gelassen schließlich liege ich ja nicht vollständig bekleidet im Bett. Nach der Kontrolle zögern wir nicht lange, bereiten uns vor, hängen alles wieder ab und folgen der Polizei ca. 500 m weiter auf die Hauptstraße, wo wir, für jedermann gut sichtbar, unter einer hellbeleuchteten Straßenlaterne stehen sollen. Erneut hängen wir alles zu, werfen uns ins Bett und lassen die Augen heute ein für alle Mal wieder schwer werden und die Gedanken schweifen.

Auch wenn wir seitdem oftwirklich oftvom Militär oder der Polizei aufgegabelt und/oder kontrolliert wurden, jede Kontrolle wendete sich immer zum Positiven. Zum freundlichen Händeschütteln, zur Offenbarung, dass die vermummten Männer mit ihren Kalaschnikows ebendiese Menschen sind, die trotz des Unmuts in ihrem Land, ihren Job zu unseren Gunsten tun und am Ende immer darüber erfreut sind, Ausländer wie uns zu treffen. Die erste Zeit im Iran, einem uns so unbekannten Land, hat uns mit all ihren spannungsvollen Erlebnissen einen unerwarteten Nervenkitzel beschert, aber einmal mehr gezeigt, was uns in unserer westlichen Welt an gewissen Stellen fehlt: der Mut, Fremden offen zu begegnen.


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