Raus aus Armenien. Rein in den Iran. Es ist Februar 2019. Ich erreiche die Eingangshalle an der
Grenze zum Iran. Tim ist noch weit hinter mir und schlägt sich in der
Warteschlange für Fahrzeuge mit den nächsten Schritten der Einfuhr von Scudo
herum. Erstmals kommt das sogenannte Carnet de Passages
zum Einsatz,
Scudos Reisepass, ohne den wir unseren Camper nicht durch den Zoll bekommen würden.
Ich schaue mich unterdessen in der Halle um. Mein Blick trifft unvermittelt die
streng dreinblickenden Augen Chomeinis, dem belangvollen Führer der Islamischen
Revolution von 1979. Diese Augen werden mich für den Rest meiner Zeit im Iran
verfolgen; auf Wänden werde ich sie auf mich hinabschauen sehen; in jedem
öffentlichen Gebäude werden sie jeden meiner Schritte beobachten. Sein Blick
scheint wie einer, der einen mahnen will mit Worten wie: „Rück‘ gefälligst dein
Kopftuch zurecht!“ Oder so etwas in der Art. Ich wende den Blick von diesem großen Foto an der Wand ab,
ziehe mir unwillkürlich das Kopftuch tiefer ins Gesicht und schlendere langsam
zum leeren Schalter der Passkontrolle.
Als auch Tim endlich die Kontrolle des Grenzübergangs hinter
sich gebracht hat, der unter anderem dazu dient, zu kontrollieren, ob wir
Alkohol einführen, geht es für uns zu der nächstgelegenen Großstadt
Täbris.
Weil es laut Karte und Navigationssystem einen Weg durch die hübsche bergige
Landschaft gibt, überlegen wir nicht lange und wählen diese leicht
verhängnisvolle Tour.
So
schlängeln wir uns durch die großartige Landschaft, sehen nichts als rostbraune
Hügel sowie die leere, relativ gut asphaltierte Straße vor uns, die nur so vor
Freiheit strotzt. Wie so oft auf solchen Strecken kann jedoch auch heute wieder
nur eines unsere Euphorie auf das Land und die freie Fahrt bändigen: die
langsam hereinbrechende Nacht und unsere Müdigkeit. Irgendwo an einem
nichtssagenden Straßenrand, auf einer kleinen Grünfläche, halten wir an und
beschließen, dort unsere erste Nacht im Iran zu verbringen.
Die
Nacht ist kalt, der anfängliche Regen geht allmählich in Schnee über, sodass
die Straße, unser Scudo und die Landschaft am nächsten Morgen über und über mit
Schnee bedeckt sind. Während unseres Frühstücks (kalter Joghurt mit frischen
Früchten, aber immerhin mit einem warmen Tee dabei) zieht ein gewöhnlicher
Traktor mit einem montierten Schild zum Schneepflügen an uns vorbei und lässt
uns froh stimmen über den beiseitegeschobenen Schnee hier im Nahen Osten. Über die
freigemachte Straße machen wir uns nach dem Essen auf den weiteren Weg nach
Täbris – jedoch vorerst nur für ca. 500 m! Denn wir stellen fest, dass die Straße
nicht weiter geräumt wurde. „Was soll’s“, denken wir. Muten wir Scudo ja
inzwischen ohnehin fast alles zu und ziehen also unseren Weg durch die immer
höher werdende Schneedecke nun mit Schneeketten weiter durch.
Ungefähr
15 oder 20 Kilometer kommen wir so in Schrittgeschwindigkeit voran, bis die
Schneedecke auf der Bergstraße so dick und die Straßensteigung immer extremer wird,
dass die Räder plötzlich durchdrehen und die Schneeketten an Rutschfestigkeit
verlieren. Sie fallen schließlich ganz ab. Als Tim die Ketten wieder montieren will
und von draußen per Handbremse die Räder um eine halbe Drehung zurückrollen lässt,
damit zumindest die linke Schneekette sich wieder aufzieht, verliert Scudo an
Halt und Traktion und beginnt seitlich nach hinten in Richtung Abgrund zu
gleiten. Aus Reflex springt Tim ins Auto, zieht die Handbremse an und tritt auf
das Bremspedal, um das Schlimmste zu verhindert. Während ich – noch immer auf
der Beifahrerseite sitzend – gerade in Schockstarre zeitlupenartig vor mir
sehe, wie das Auto schräg die Steigung herunterrutscht. Bevor das passiert,
stoppt alles glücklicherweise noch rechtzeitig.
Wir gestehen
uns hier ein, dass eine Weiterfahrt unter diesen Umständen einfach nicht
möglich ist. Nicht einmal umdrehen können wir hier, sodass Tim uns ein bis zwei
Kilometer auf unserer alten Spur rückwärts aus diesem Schlamassel manövrieren
muss, bis wir wenden können. Wir haken die Tour durch die Berge ab und nehmen
die Hauptroute über die asphaltierte Autobahn auf uns, um nach Täbris zu
gelangen. Dort kommen wir schlussendlich auch gut an.
Ein paar Tage später verlassen wir Täbris wieder.
Auf Empfehlung von drei Iranern, die wir zufällig trafen, fahren wir im Westen
des Landes, dicht an der irakischen Grenze, über das schöne in Kurdistan
liegende Bergdorf Uraman
weiter in den Süden. Der Weg dorthin ist gesäumt von
Bergen und kleinen Bergdörfern, die eine kontinuierliche Weiterfahrt diesmal unmöglich
machen, weil wir nur schwerlich umhinkönnen, immer wieder auszusteigen und die
Landschaft zu bestaunen.
Nach
und nach arbeiten wir uns dennoch weiter vor und erreichen immer mehr an
Höhenmetern, bis die Schneegrenze sich wieder nähert. An einem Militärposten
des Grenzschutzes müssen wir erneut halten und werden unter Präsenz von
Kalaschnikows dazu aufgefordert, unser Reisepässe vorzuzeigen. Bei der
Kontrolle an diesem Checkposten, die sich als harmlose Standardkontrolle
herausstellte, wissen wir noch nicht, dass derartige stark bewaffnete
Kontrollen später zur lästigen Routine während unserer Reise durch den Iran
werden würden. Nachdem alles erledigt ist, fahren wir weiter durch die
grauweißen Berge, die zu unserer Rechten die natürliche Grenze zum Irak bilden.
Wir
schlängeln uns über die Passstraße, deren schneebedeckter Boden mit
einem Mal von Müll und vereinzelt parkenden Autos flankiert wird. Je weiter wir
fahren, desto mehr parkende Autos erscheinen am Straßenrand – und noch
mehr Müll. Insbesondere orangefarbener Plastikmüll, der auf dem weißen Schnee
signalfarbenartig hervorsticht. „Irgendetwas ist doch hier los! Wo sind denn
die ganzen Menschen zu den parkenden Autos?“, frage ich in den Raum. Die Antwort
befindet sich nicht nur zwei Kilometer weiter, wo wir den ersten Männern
begegnen, sondern ganz besonders und erschreckenderweise auf dem hohen Bergkamm
zur irakischen Grenze, wo der Rest der Mannschaft auf orangefarbenen
Kartons die Riesenberge wie spielende Kinder herunterrodelt. „Was in aller Welt machen die da?!“,
platzt es aus mir heraus, wohlwissend, dass mir gerade keiner eine Antwort
liefern wird. Aber ein Blick auf weitere Männer, an denen wir soeben
vorbeifahren, gewährt uns schnellen Aufschluss über dieses Geschehnis: es geht
um Schmuggel in hollywoodreifen Szenarien! Einige Kartons werden neben uns geöffnet. Autoradios, Handys, Küchengeräte,
Stereoanlagen, usw. werden hier unter lebensbedrohlichen Bedingungen aus dem
Irak in den Iran geschmuggelt – zu Fuß! Wie eine Ameisenstraße lässt sich der
schwarze Faden in der Ferne verfolgen, der sich am Fuße des Berges in sichtbarerer Distanz
zwischen den orangenen Plastikfetzen einiger Kartons aufzulösen scheint. Wir können
es nicht fassen, dass wir gerade Zeugen möglicher Folgen von
Wirtschaftssanktionen werden, die dem Iran seitens der USA auferlegt wurden.
Dass die dadurch eingetretene Wirtschaftskrise im Iran den stetig wachsenden Unmut der
Bevölkerung, den wir später im Iran noch oft zu hören bekommen werden, Menschen
dazu befähigt, ihr Leben für Elektrogeräte zu riskieren.
Aufgrund
der Sanktionen haben sich in wirtschaftlicher Hinsicht viele Länder aus dem
Iran zurückgezogen. Zudem verliert die iranische Währung Rial
immer mehr an
Wert, sodass es zu einer großen Inflation gekommen ist. Elektrogeräte von
Marken westlicher Hersteller, die vor drei Jahren etwa noch um das drei- oder
vierfache weniger kosteten, sind für die Menschen heute kaum mehr bezahlbar.
Aber nicht nur der Schmuggel scheint die Folge der Sanktionen zu sein, sondern
auch Korruption. Wie sonst ließe sich erklären, dass der Militärkontrollposten,
den wir nur wenige Kilometer zuvor passiert haben, von all dem Schmuggel nichts
bemerken will, geschweige denn etwas dagegen unternimmt? Andererseits: Wer
würde nicht gern einen Teil des Kuchens abbekommen wollen, der a l l e n,
egal welchen Ranges, einen Lebensstandard ermöglicht, der aus rein politisch
motivierten Gründen niemandem vergönnt bliebe?
Niemand hier
schert sich um unsere Anwesenheit. Selbst als ich die Kamera hervorhole, um
das Geschehen zu dokumentieren, fühlt sich niemand in seiner Arbeit gestört. Es
scheint völlig normal, das macht die Situation für uns noch unbegreiflicher.
Nach einer gewissen Zeit steigen wir wieder ins Auto, um weiter entlang des
Gebirgskamms zu fahren. Was wir hier erlebt haben, hallt noch lange nach und es
wird nicht das letzte Mal sein, dass wir eine solche Schmuggelaktion im Iran sehen.
Unverhofft werden wir erneut Zeugen einer besonderen Sache im Iran. Zeugen der
fortwährenden unglaublichen Gastfreundschaft, die, trotz allen Unmuts in diesem
Land hinsichtlich der Wirtschaftskrise, nicht abzuklingen scheint: Gegen
Nachmittag treffen wir in dem Bergdorf Vara
ein. In einem kleinen Laden wollen
wir uns mit einem Nachmittagssnack eindecken und legen unsere Auswahl gut
sichtbar auf den Tresen des Verkäufers, zahlen dürfen wir allerdings nicht. Der
Verkäufer ist sichtlich erfreut über uns und darüber, dass Touristen den Weg in
seinen Laden gefunden haben. Er will uns alles, was wir uns ausgesucht haben,
schenken: „Für Touristen ist alles umsonst“, beteuert er spontan mit einem
sympathischen Lächeln. Tims mehrmalige Versuche, das Geld zu überreichen,
akzeptiert er nicht und schenkt uns diesen Einkauf tatsächlich. Es ist nicht
das erste und letzte Mal, dass wir im Iran zu etwas eingeladen werden: ein Tee,
ein Snack, ein Mittagessen, ein Gespräch, eine Tankfüllung, eine Übernachtung…
Unsere weitere Route führt uns in Richtung Süden,
wo wir endlich wieder
den warmen Strahlen der Sonne begegnen
wollen. Wir fahren
auf einer asphaltierten Straße zwischen einer immer karger werdenden
Landschaft, weiterhin an der Grenze zum Irak, und kreuzen örtlich die
Geschichte des Ersten Golfkrieges. Einem Krieg zwischen dem Iran und Irak,
dessen Ausmaß unzählige Menschenleben, insbesondere das Leben junger
Kindersoldaten, aufs Brutalste forderte.
Ich versuche, nicht daran zu denken, während die
Geschichte an meinem Beifahrerfenster an uns vorbeizieht. Es fällt schwer, denn
alle paar Meter zieht ein anderes Gesicht, groß, unverkennbar, starr, auf alten
Plakaten (meist an Straßenlaternen befestigt) an uns vorbei, dessen Farben im Zeichen
der Zeit jedoch längst verblichen sind. So aber nicht die Erinnerung an jenen
Krieg, dessen Geschichte sein Fundament heute auf dem Leben vieler Toter baut,
die als Märtyrer gelten und deren Gesichter bis heute unvergessen in der Öffentlichkeit prangen.
Da die Sonne im Begriff ist unterzugehen, bleibt uns jetzt
keine Wahl, als uns auf die Suche nach einem Platz zum Übernachten zu machen.
Obwohl das Finden eines passablen Platzes sich in solchen Orten, die vor Weite
und Raum nur strotzen, normalerweise nicht als sonderlich schwierig
erweist, wird unsere Platzsuche an diesem Ort heute von einem merkwürdigen Beigeschmack untermauert.
Wir
finden einen simplen Platz auf einer Wiese zwischen kargen Hügeln. Es ist inzwischen dunkel, nur Scudo wirft ein paar Lichtstreifen aus
seinem Inneren auf die Wiese. In alter Macht der Gewohnheit aus
Zeiten der eiskalten Tage ziehen wir es noch vor, unten zu schlafen und nicht
unter unserem Hochdach. Wir sind müde, also legen wir uns nach dem Zähneputzen schnell in die
Schlafsäcke, um diese Nacht herumzukriegen und morgen zügig weiterzufahren. Tim macht
das Licht aus. Alles um uns herum ist stockduster. Die Augen werden schwer. Die Gedanken verschwinden träge ins Nichts. Und
plötzlich: Motorgeräusche eines Fahrzeuges, das offenbar unmittelbar neben
Scudo zum Stehen kommt. Stimmengewirr auf Farsi. Die Augen sind schlagartig
wieder hellwach. Ich öffne sie und es trifft mich der spitze Lichtstrahl einer
Taschenlampe durch die kleinen Spalten unserer zugehängten Frontscheibe direkt
ins Gesicht. „Da ist jemand. Tim, da ist jemand!“, flüstere ich zu Tim, als
hätte er das Offensichtliche nicht auch schon längst bemerkt. Wir folgen den
Stimmen, die um unser Auto kreisen, mit den Augen. Schließlich klopft es. Es
wäre nicht das erste Mal, dass wir nachts aus dem Schlaf geklopft werden und –
wie fast immer – von der Polizei überrascht worden wären, die uns hier und da aus
Sicherheitsgründen nicht haben möchte. Allerdings ist das bis jetzt noch nie im
Iran passiert. Ist es denn die Polizei? Tim streift sich eine Hose über und öffnet die Tür. Ein mit
einem schwarzen Tuch vermummter Mann steht in der Türöffnung, bewaffnet mit
seiner AK-47, und schindet damit einen Eindruck, der unvermittelt in die
Assoziation eines Terroristen übergeht. Etwas argwöhnisch stellt sich Tim der zunächst
unbekannten Situation draußen, während ich im Auto bleibe und die Ohren spitze.
Aus dem Schatten der Dunkelheit taucht ein zweiter vermummter Mann auf, dessen
Aussehen nicht weniger abschreckend ist. Ruhe bewahren. Die Situation
relativiert sich schnell, als noch zwei weitere Männer auftauchen und sich als
Polizisten kenntlich machen, die tatsächlich nur hier sind, um das zu tun, was
alle Polizisten tun, wenn sie uns finden: Sie verweisen uns aus
Sicherheitsgründen des Platzes. Der Grund: Potentielle irakische Scharfschützen
sollen an diesem Ort lauern. Zudem wird Tims Pass kontrolliert. Der Lichtstrahl
einer grellen Taschenlampe trifft mich im Scudo währenddessen erneut ins
Gesicht, bevor Tim den Beamten klarmacht, dass keiner außer mir – seiner Ehefrau,
wie wir im Iran vorgeben – sich im Auto befindet. In Sekundenschnelle wird das
Licht von mir abgewendet und die Schiebetür zugezogen. Nur meinen Reisepass
muss ich Tim durchreichen und werde ungeahnt respektvoll außer Acht gelassen –schließlich liege ich ja nicht vollständig bekleidet im Bett.
Nach der Kontrolle zögern wir nicht lange, bereiten uns vor, hängen alles wieder ab und folgen
der Polizei ca. 500 m weiter auf die Hauptstraße, wo wir, für jedermann gut
sichtbar, unter einer hellbeleuchteten Straßenlaterne stehen sollen. Erneut
hängen wir alles zu, werfen uns ins Bett und lassen die Augen heute ein für
alle Mal wieder schwer werden und die Gedanken schweifen.
Auch
wenn wir seitdem oft–wirklich oft–vom Militär oder der Polizei aufgegabelt
und/oder kontrolliert wurden, jede Kontrolle wendete sich immer zum Positiven. Zum freundlichen Händeschütteln, zur Offenbarung, dass die vermummten Männer
mit ihren Kalaschnikows ebendiese Menschen sind, die trotz des Unmuts in ihrem
Land, ihren Job zu unseren Gunsten tun und am Ende immer darüber erfreut sind, Ausländer wie uns
zu treffen. Die erste Zeit im Iran, einem uns so unbekannten Land, hat uns mit all ihren spannungsvollen
Erlebnissen einen unerwarteten Nervenkitzel beschert, aber einmal mehr gezeigt, was uns in unserer westlichen Welt an gewissen Stellen fehlt:
der Mut, Fremden offen zu begegnen.